In diesem Winter jährt sich ein einschneidendes Ereignis der deutschen Geschichte zum 100. Mal. Der Steckrübenwinter gilt in der deutschen Geschichte als Symbol für während des Krieges grassierenden Hunger und Unterernährung.
Für die katastrophale Versorgung wurde vor allem die Seeblockade der Entente verantwortlich gemacht. Inzwischen gilt es aber als gesichert, dass auch ein Mangel an effizienter Verwaltung von Nahrungsmitteln in urbanisierte Gebieten die Probleme insbesondere in Großstädten drastisch verschärften. Ein Höchstpreiszwang im Einzelhandel sorgte dafür, dass viele Bauern ihre Ernte lieber an Vieh verfütterte, anstatt sie in den Städten zu verkaufen. Kalorisch gesehen ist die Heranzucht von Nutzvieh allerdings äußerst ineffizient und sorgt unterm Strich für einen Verlust an Kalorien, mit denen die Bevölkerung hätte versorgt werden können. Aber wie konnte es überhaupt zu einer Hungersnot kommen?
Steckrübenwinter: Vorbereitung ist alles
1914 war das Deutsche Kaiserreich – so wie auch die anderen Länder – absolut nicht auf einen längeren Krieg vorbereitet und es waren keinerlei Nahrungsreserven angelegt worden. Die meisten Länder gingen davon aus, dass ein bewaffneter Konflikt nicht lange dauern und die eigene landwirtschaftliche Produktion zur Selbstversorgung ausreichen würde. Die letzte große Hungerkrise in Deutschland lag 57 Jahre zurück und es herrschte seit über 40 Jahren Frieden. Man überschätzte schlicht die Fähigkeit der deutschen Landwirtschaft zur Selbstversorgung der rapide wachsenden Bevölkerung.
Deutschland hatte aber bereits vor dem Krieg ca. 1/3 aller Nahrungsmittel importiert. Dieses Drittel fiel durch die Seeblockade der Royal Navy ab 1914 größtenteils weg. Auch Importe von für die Landwirtschaft essentiellen Nutzgütern wie dem als Dünger genutzten Salpeter fielen aus. Hinzu kam, dass alles künstlich hergestellte Nitrat in der Munitionsherstellung benötigt wurde.
Nahrung wurde rationiert, das sogenannte „Kriegsbrot“ ersonnen, das aus Kartoffelmehl bestand. Milch wurde mit Wasser verdünnt und vornehmlich an Mütter verteilt. Hinzu kamen Rationen von 1,5kg Mehl und 100g Fett pro Woche. Immer mehr Ersatzprodukte, sogenannte Surrogate, wurden eingeführt. Gegen Ende des Krieges gab es über 10.000 dieser Produkte, beispielsweise Kaffeeersatz aus geraspelten und getrockneten Steckrüben.
Im Winter 1916/17 eskalierte die Situation schließlich: Schlechtes Herbstwetter sorgte für eine Halbierung der Kartoffelernte, dem bis dahin vorherrschenden Grundnahrungsmittel. Als Ersatz wurde die Steckrübe herangezogen, die bis dato primär zur Fütterung von Nutztier diente. Diese braucht – anders als die Kartoffel – kaum Kunstdünger und ist gegenüber Umwelteinflüssen deutlich robuster. Gleichzeitig ist sie recht vitaminreich, wenn auch nicht annähernd in dem Ausmaße der Kartoffel. Das Hauptproblem mit der Steckrübe war letztendlich, dass sie eine zu geringe Kaloriendichte besaß, um die Kartoffel adäquat bei der Ernährung eines Erwachsenen zu ersetzen. Die durchschnittliche Kalorienzufuhr eines erwachsenen Deutschen verringerte sich so von 3.000 Kalorien am Tag im Jahr 1913 auf unter 1.000 Kalorien im Hungerwinter.
Erst kommt das Essen, dann der Krieg
Experten schätzten, dass zwischen 1914 und 1918 in Deutschland ca. 800.000 Menschen an den Folgen von Unterernährung gestorben sind. Insbesondere die Kindersterblichkeit explodierte auf bis zu 50%. Die durch solch eine Mangelernährung geschwächte Bevölkerung war auch anfälliger für Krankheiten wie Tuberkulose oder Grippe. Die daraus resultierende Unzufriedenheit innerhalb der Bevölkerung führte nach und nach zu einem Verlust der Legitimität des Staates gegenüber seiner Bevölkerung. Diese interessierte sich immer weniger für irgendwelche Siegesmeldungen von der Front, sondern war mit der Frage beschäftigt, wo man am nächsten Tag Essen auftreiben konnte.
Die Nahrungsmittelknappheit führte Anfang 1917 schließlich zu einer schicksalsschweren Entscheidung: der Wiederaufnahme des uneingeschränkten U-Boot-Krieges im Atlantik. Ein verzweifelter Versuch, die Versorgung der Briten mit Nahrung und Kriegsmaterial zu unterbrechen und somit zu einem Waffenstillstand zu zwingen, bevor die Situation in Deutschland noch weiter eskalieren konnte. Ultimativ scheiterte diese Kampagne und war letztendlich einer der Hauptgründe für den Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg. So verschärfte sich die deutsche Situation noch weiter. Der Krieg war verloren.
Aber auch im Frieden machte sich die Hungersnot noch einmal bemerkbar. Die noch geschwächte deutsche Bevölkerung hatte der 1918 aufkommenden Spanischen Grippe nichts entgegenzusetzen. Dies führte zum Tode weiterer 350.000 Menschen hierzulande.